Digitale Spiele faszinieren.
Worin diese Faszination liegt, ist für Menschen, die noch kaum mit diesem Medium in Berührung gekommen sind, schwer zu begreifen. Anfang 2022 gibt Microsoft den Kauf des Spiele-Publisher „Activision Blizzard“ für 70 Milliarden US Dollar bekannt. Um einen Vergleich aus der Populärkultur heranzuziehen: Disney hat im Jahr 2012 das “Star Wars”-Franchise für 4 Milliarden US Dollar gekauft. Spätestens bei solch Zahlen wird klar: Games können keine gesellschaftliche Randerscheinung sein. Wir haben es also nicht mehr mit einem Nischen-Hobby zu tun, was das Gaming vielleicht in den 1980er und 1990er Jahren noch war, sondern mit einem kulturell relevanten Wirtschaftszweig, der mehr Geld erwirtschaftet als die Musik- und Filmbranche zusammen.
Was bedeutet das für die pädagogische Arbeit mit Videospielen?
So wie bei jedem anderen Medium bedarf es auch bei Videospielen einer gewissen Medienkompetenz, um das Medium nicht nur nutzen, sondern auch kritisch hinterfragen zu können. Dies liegt nicht zuletzt an moralisch fragwürdigen Inhalten mancher Spiele. Zum Glück leistet hierzu die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (kurz: USK) in Deutschland bereits gute Vorarbeit, um Erziehungsberechtigte über die Eignung von Spielen für Kinder und Jugendliche zu informieren. Über die offensichtlichen Themen des Jugendschutzes hinaus bieten Spiele jedoch auch mannigfaltiges Potential für Kinder und Jugendliche, sich spielerisch den eigenen Entwicklungsaufgaben zu stellen.
Um aber zu verstehen, warum Videospiele gesellschaftlich und somit auch für Kinder und Jugendliche so relevant sind, lohnt es sich, bei der kleinsten Frage anzufangen: Warum spielen wir? Die einfachste Antwort auf diese Frage lautet: Weil es Spaß macht. Doch unter der Oberfläche ist es komplexer. Daher macht es Sinn, sich die verschiedenen Faszinationsformen von Games einmal genauer anzusehen.
Soziale Faktoren
Das 90er-Jahre Klischee des merkwürdigen, blassen Kindes, das im Keller seiner Eltern Videospiele spielt, ist längst überholt. Mit dem Web 2.0 veränderte sich auch die Welt der Videospiele. Schnelleres Internet und technische Entwicklungen, die es ermöglichten, große Datenmengen über ebenso große Distanzen zu schicken, sorgten für den Aufschwung des Online-Gamings. Durch Spiele wie z.B. World of Warcraft (2004) konnten sich die Spielenden erstmals in Echtzeit mit Tausenden anderen Menschen in einer virtuellen Welt bewegen und interagieren. Und überall da, wo Menschen miteinander agieren, entstehen soziale Strukturen.
Heute besitzt ein Großteil der neu erscheinenden Spiele verschiedene Online-Optionen. Diese umfassen Mechanismen wie das Tauschen virtueller Güter, Text-Chat, Voice-Chat, gegenseitige Hilfestellungen und das Spielen mit- und gegeneinander. Die Kombination dieser Funktionen lässt einzelne Spiele bereits wie eigene Soziale Netzwerke erscheinen.
Die in Games vorhandenen sozialen Mechanismen treten in ständige Wechselwirkung mit sozialen Kompetenzen, die einerseits vorausgesetzt, andererseits innerhalb dieser Mechanismen weiter erlernt und bearbeitet werden. In den meisten Games mit Online-Funktionen wird sozial unverträgliches Verhalten geahndet, was sich bereits als integrierte pädagogische Maßnahme lesen lässt.
Wettbewerb und eSport
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der ebenfalls unter den Bereich der sozialen Faktoren fällt, ist der Wettbewerb. Dieser kann in unterschiedlichen Formen auftreten: durch Ranglisten, in Teams, im “1 gegen 1” oder auch im Battle Royale. Spiele, in denen Spielende in Konkurrenz zueinander stehen, also in einen Wettbewerb treten, sind mitunter die erfolgreichsten. Aber warum eigentlich? Hier macht es Sinn, sich der Analogie zum Fußball zu bedienen: Die meisten Menschen spielen Fußball zum Spaß. Auf dem Bolzplatz hinterm Haus, in der C-Jugendliga oder bei einem Amateur-Turnier. Genauso verhält es sich mit Videospielen. Die einen spielen entspannt mit Freund*innen auf dem Sofa, andere auf dem Weg zu Schule oder Arbeit in der Straßenbahn und wieder andere spielen wöchentlich in einer Amateur-Liga wie der Prime League.
Niemand, der oder die das erste mal einen Fußball tritt, schießt das Entscheidungstor in einem WM-Endspiel und niemand, der oder die einen Gameboy in die Hand nimmt, schafft ohne Übung einen Highscore bei Tetris oder gewinnt ohne Training im Team die Weltmeisterschaft in Counterstrike oder League of Legends. Aber wie im Fußball gibt es auch im Gaming einige wenige, die ihr Hobby zum Beruf machen und ihre Tätigkeit professionalisieren. Fest steht: In digitalen Spielen können Höchsleistungen vollbracht werden. Ob das kompetitive Spielen als Sport oder “nur” als eSport bezeichnet werden sollte, kann hier nicht diskutiert werden. Was praktisch zählt, sind Beobachtungen des kulturellen Phänomens. Und diese Beobachtungen umfassen riesige sportähnliche Strukturen: Transfermarkt, Ablösesummen, Sponsoring, Preisgelder, Fankulturen und Hallen voller Menschen, die den Spektakeln beiwohnen.
Und so, wie sich auch Fußball als Plattform für pädagogische Arbeit eignet, so lässt sich auch das teambasierte kompetitive Spielen von Videospielen als Brücke zwischen dem Hobby von Jugendlichen und dem Erwerb sozialer Kompetenzen durch pädagogische Arbeit verstehen. Dabei ist hervorzuheben, dass hierbei eine Grenze zwischen analogem und digitalem Sozialverhalten aufgebrochen wird und eine Wechselwirkung stattfindet. Darüber hinaus bieten Games als Medium die Möglichkeit, sich nicht nur auf allgemeine soziale Kompetenzen, sondern auch auf Medienkompetenz positiv auszuwirken. So kann durch das pädagogisch begleitete Spielen ein großer Mehrwert geschaffen werden – nicht nur im Wettbewerb, sondern in jeglichen sozialen Situationen, die dabei entstehen. Kompetenzen, die das digitale Spielen im Miteinander erprobt, sind z.B. Teamgeist, Aufgabenteilung und Zuverlässigkeit.
Herausforderung und Belohnung
Gut designte Spiele (nicht nur digitale Spiele) verstehen es, ihre Spielenden in einen Tätigkeitsrausch zu ziehen. Dieses psychologische Phänomen wird als flow bezeichnet. Flow kann überall da entstehen, wo Menschen sich in ihre Aufgaben oder Tätigkeiten vertiefen und ein Mittelweg zwischen Über- und Unterforderung entsteht. Digitale Spiele mit ihren riesigen Produktionsbudgets werden bereits seit Jahren so designt, dass sie diesen Mittelweg präzise treffen. Und sollte er mal nicht genau getroffen sein, gibt es in den Spielen oftmals verschiedene Schwierigkeitsgrade, unter denen die Spielenden genau den einen auswählen können, der ihnen die passendste Herausforderung bietet. So empfinden Spielende ein positives Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Doch früher oder später landet jede*r mal auf dem “GAME OVER”-Bildschirm, wird mit dem eigenen Scheitern konfrontiert und muss einen Spielabschnitt wiederholen. Eine wichtige charakterliche Kompetenz, die den Spielenden in diesem Moment abverlangt wird, ist die Frustrationstoleranz. Im Gegensatz zu realen Herausforderungen, in denen ein Scheitern Konsequenzen hat (wie z.B. eine schlechte Note in der Schule), bieten viele Videospiele die Möglichkeit, ohne Gesichtsverlust, die Herausforderung im zweiten oder dritten Anlauf zu meistern. Im Anschluss wartet oft eine Belohnung auf die Spielenden. Somit wird Frustrationstoleranz durch Übung direkt belohnt, was zum Weiterspielen motiviert.
Diese in digitalen Spielen vorhandenen Dynamiken bieten viele Anknüpfpunkte für die pädagogische Arbeit. So lässt sich das eigene Scheitern beispielsweise in Bezug auf angemessene und unangemessene Reaktionen reflektieren. Durch pädagogisch gerahmte Spielsituationen kann ein Dialog über das eigene Selbstwirksamkeitsempfinden, Scheitern und Frustration entstehen und der Fokus auf Lerneffekte und Motivation gelenkt werden.
Wer sich für die präventive Medienarbeit eher über Tricks und Belohnungssysteme von Spielen informieren möchte, dem empfehlen wir das Video Die Psychotricks von Spiele Apps des YouTube-Kanals So Many Tabs.
Geschichten erzählen
Videospiele können ein erzählendes Medium sein. Dies trifft allerdings eher auf Einzelspieler-Titel als auf Mehrspieler-Titel zu, da erstere sich für das tiefe Eintauchen in eine Geschichte besser eignen. Das Zusammenspiel von narrativer und ludischer (von Ludologie = der Lehre des Spielens) Ebene ist ein komplexes Themenfeld und bezieht sich auf die Verbindung von spielerischen und erzählenden Elementen, was ein Kernbestandteil moderner Videospiele ist. Dabei sind es oft erst die Erzählungen, die den Spielenden die Motivation zum Handeln geben. Dies ist sehr eng mit dem Aspekt der Rollenübernahme verbunden (siehe unten), die im Videospiel in dem Moment stattfindet, in dem wir beginnen eine Figur zu steuern.
Ein klassisches Beispiel: Wir schlüpfen in die Rolle von Super Mario. → Prinzessin Peach wird entführt. → Wir erhalten die Anweisung, sie zu retten.
Oftmals drehen sich die Erzählungen in Videospielen darum, dass der Hauptcharakter, gesteuert durch die Spielenden, Probleme oder Konflikte lösen muss. Bei der Problemlösung geben viele Games heute die Möglichkeit, die gesetzten Spielziele auf unterschiedlichen Wegen mit unterschiedlichen Methoden zu erreichen – oder aber es werden mehrere ganz diverse Handlungsoptionen angeboten, die beispielsweise bedingen, dass man sich einer Konfliktpartei anschließt und die andere verärgert (oder andersrum).
Dabei werden auch oft moralische Fragen aufgeworfen oder gewalttätige und gewaltfreie Optionen zur Verfügung gestellt. Zwar gibt es auch nach wie vor Spiele, die den Nutzenden keine oder kaum Handlungsoptionen einräumen, wie im Beispiel Super Mario, jedoch werden heute im Sinne des Realismus verschiedene Wege angeboten. Dies kann bis hin zu komplexen Entscheidungsbäumen führen, in denen jede getroffene Entscheidung einen neuen Ausgangspunkt bestimmt, von dem aus erneut Entscheidungen getroffen werden müssen und sich die Geschichte möglichst frei selbst schreiben lässt. Dadurch maximiert sich das Gefühl der Selbstwirksamkeit.
Einige Spiele sind mittlerweile so komplex, dass schon während des Spiels die Entscheidungsbäume transparent gemacht werden. Die Visualisierung eines solchen Entscheidungsbaumes findet sich beispielsweise im Spiel Detroid: Become Human.
Die Geschichten, die digitale Spiele erzählen, bieten oftmals Anknüpfpunkte für moralische und ethische Diskussionen. Spiele können zudem sehr direkt gesellschaftliche Themen aufgreifen – wie im Fall von Concrete Genie, ein Spiel, in dem es um Mobbing unter Jugendlichen geht. Spiele wie dieses eignen sich daher in pädagogischen Angeboten hervorragend, um einen lebensweltnahen Gesprächseinstieg in Themen zu finden, die je nach Zielgruppe sonst eher schwierig zu bearbeiten sind, aber ein Gefühl für ethische und moralische Themen fördern.
Rollenübernahme
Videospiele bieten wie bereits erwähnt die Möglichkeit zur Rollenübernahme. Die Spielenden werden meist in die Rolle eines sogenannten Avatars versetzt, einer Spielfigur, die durch die jeweilige digitale Welt gesteuert wird. Auf diese Art identifizieren sich die Spielenden zu einem gewissen Grad mit ihrer Spielfigur und werden für die Spielzeit zu Formel-1-Fahrer*innen, Soldat*innen, Köch*innen, Pirat*innen und vielem mehr. Dadurch bieten Videospiele eine vorher nie da gewesene Möglichkeit, in fremde Personen und Rollen zu schlüpfen und Fantasien und Tagträume auszuspielen.
Aus pädagogischer Perspektive ist die Rollenübernahme ein wichtiger Schritt zum Erwerb von Empathie. Im Zuge der Rollenübernahme im Videospiel können Fragen aufkommen wie: Identifiziere ich mich überhaupt mit dem Charakter, den ich spiele? Warum (nicht)? Worin ist er mir ähnlich? Worin unterscheiden wir uns? Würde ich genauso handeln?
Somit kann die Rollenübernahme im Videospiel dabei helfen, sich Gedanken um die Bedeutung von (eigener) Identität zu machen und die Handlungsweisen der Protagonist*innen von Videospielen zu hinterfragen und einzuordnen.
Selbstinszenierung und Community
Viele Online-Games bieten ihren Nutzenden heute die Möglichkeiten, sich selbst innerhalb einer Gaming-Community zu repräsentieren, anstatt lediglich vorgefertigte Spielfiguren zu steuern. Diese Möglichkeiten reichen von einer selbst gestalteten Lackierung eines Autos über das Gestalten der eigenen menschlichen Spielfigur bis hin zu eigenen Clubs, Clans oder Hauptquartieren, die man alleine oder mit anderen zusammen erschaffen kann. Diese Selbstinszenierungen innerhalb einer Gaming-Community können, ähnlich wie die eigene Darstellung in Sozialen Medien wie Instagram, Teil der Identitätsarbeit von Kindern und Jugendlichen sein und dabei helfen, sich der äußeren Perspektive auf sich selbst bewusst zu werden. Auch das Thema der Gender-Identität lässt sich im Zuge von Videospielen sinnvoll bearbeiten.
Games bieten die Möglichkeit, sich selbst zu entdecken und die eigene Online-Identität zu erproben. Darüber hinaus kann die Identifikation als Gamer*in und das aktive Teilnehmen in einer Gemeinschaft aus Gleichgesinnten dieselben positiven Wirkungen entfalten, wie es analoge Interessens- und Bezugsgruppen schaffen (Klassenverbände, Fußballvereine o.ä.). Großes Plus: Internationale Gaming-Communities und die damit verbundenen sozialen Mechanismen können zusätzlich der Sprachförderung und dem kulturellen Austausch dienen.
Kreative Entfaltung
Abgesehen von Möglichkeiten der kreativen Selbstinszenierung bieten viele Spiele weitergehende Möglichkeiten, sich kreativ zu betätigen. Allen voran steht hier das Beispiel von Minecraft, ein Spiel, das sich bereits seit 13 Jahren großer Beliebtheit erfreut. Sein Kern ist es, die Welt, die aus sammelbaren und neu kombinierbaren Blöcken besteht, fortlaufend umzugestalten. Spiele, in denen Kreativität im Vordergrund steht, verfolgen oft kein oder nur ein loses Spielziel und machen dadurch Platz für Entschleunigung und gestalterischen Umgang mit der Spielwelt.
Die Idee des kreativen Umgangs mit Videospielen geht jedoch auch noch einen Schritt weiter und umfasst z.B. auch die Meta-Ebene durch das Erstellen von Videos über Spiele oder auch die Entwicklung eigener Spiele, was aufgrund moderner Games-Baukästen erstaunlich einfach geworden ist. Das eigene Designen von Spielen ist eine gute Methode, um über Games und ihre Wirkungsweisen zu sprechen.
Games-Pädagogik im Medienkonzept
Entscheidet ihr euch für aktive und alltagsintegrierte Games-Pädagogik in der Kinder- und Jugendarbeit oder findet diese bereits schon statt, dann lohnt es sich, diesen Schwerpunkt auch im Medienkonzept genauer zu beschreiben. Dort verankert ihr, …
…welche Spielekonsolen und Spiele ihr im Angebot habt bzw. welche Spielinteressen eure Zielgruppe verfolgt.
…wie das Spielen und das Spielinteresse begleitet und aufgegriffen wird, z.B. auch durch Beteiligung an einer eSports-Liga.
…welche pädagogischen Ziele und Chancen ihr dabei in den Blick nehmt.
…inwiefern ihr dabei auf den Jugendschutz achtet und ggf. beim Spielen auf Online-Plattformen auch den Datenschutz gewährleistet.
…wie ihr das Thema Games zukünftig in Projekten und Angeboten aufgreifen wollt. Inspiration hierfür findet ihr in der Broschüre Digitale Spiele in der Jugendarbeit.
Dieser Artikel liefert hoffentlich einige gute Argumente für das Medienkonzept und dafür, warum es sich lohnt, Games in eure pädagogische Arbeit zu integrieren. Natürlich gilt es auch einige Risikobereiche rund um digitale Spiele zu beachten. Zum Thema exzessive Mediennutzung und Jugendschutz findet ihr einige weitere Informationen beim Spieleratgeber NRW.
Videospiele sind ein mächtiges Medium, das viele begeistert. Leider wird es nicht selten lediglich in Bezug auf problematische Inhalte und Aspekte des Jugendschutzes diskutiert. Doch wenn wir uns gegenüber den Chancen des Mediums öffnen und pädagogische Angebote schaffen, die diese Potentiale nutzen, sind Videospiele ein lebensweltnahes Tool. Es hilft uns im wahrsten Sinne des Wortes spielerisch dabei, diverse Kompetenzen zu fördern und Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen.